Ein umfassendes Risikomanagement betrachtet nicht nur offensichtliche Bedrohungen, sondern erkennt auch indirekte Risiken, die durch die gesamte Wertschöpfungskette kaskadieren können. Diese erweiterte Perspektive kann Dein Unternehmen widerstandsfähiger machen und neue Chancen eröffnen.

Warum traditionelles Risikomanagement oft zu kurz greift

Die meisten Unternehmen verfügen über Prozesse zur Identifizierung und Bewertung von Risiken, häufig im Rahmen eines Enterprise-Risk-Management-Programms. Diese Ansätze greifen jedoch oft zu kurz, da sie sich in der Regel nur auf die offensichtlichsten direkten Risiken konzentrieren und indirekte Risiken vernachlässigen, die gleichwertige oder sogar größere Auswirkungen haben können.

Ein klassisches Beispiel: Als der kanadische Dollar gegenüber dem US-Dollar um 30 Prozent aufwertete (2007-2008), verstanden kanadische Hersteller zwar die direkten Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit im US-Markt. Was sie jedoch übersahen, war der indirekte Effekt: Kanadische Verbraucher begannen, größere Anschaffungen in den USA zu tätigen, was die Hersteller zwang, auch ihre Inlandspreise zu senken. Die kombinierte Gewinnkompression in beiden Märkten verursachte weit größere Schäden als ursprünglich angenommen1.

Die Kaskaden-Effekte verstehen

Um Dein Risikomanagement wirklich effektiv zu gestalten, musst Du über die unmittelbaren, offensichtlichen Risiken hinausblicken und die Folgeffekte evaluieren, die ganze Wertschöpfungsketten destabilisieren können. Eine gründliche Analyse direkter Bedrohungen ist immer notwendig, aber niemals ausreichend.

Schlüsselbereiche für erweiterte Risikoanalysen

  • Wettbewerber und Marktposition

Besonders wichtig ist die Untersuchung, wie Risiken die Kostenposition Deines Unternehmens im Vergleich zu Wettbewerbern oder Ersatzprodukten verändern könnten. Unternehmen sind besonders anfällig für diese Art von Risikokaskaden, wenn sich ihre Währungsrisiken, Lieferantenbasis oder Kostenstrukturen von denen ihrer Konkurrenten unterscheiden.

Ein anschauliches Beispiel bietet die Luftfahrtindustrie: Wenn einige Fluggesellschaften ihre Treibstoffkosten absichern und andere nicht, führen Treibstoffpreiserhöhungen dazu, dass die nicht-absichernden Unternehmen erhebliche Einbußen bei Margen oder Marktanteilen hinnehmen müssen, während die absichernden Gesellschaften Windfall-Profits erzielen.

  • Lieferketten

Klassische Kaskadeneffekte in Lieferketten umfassen:

  • Unterbrechungen in der Verfügbarkeit von Teilen oder Rohstoffen
  • Veränderungen in den Kostenstrukturen von Lieferanten
  • Verschiebungen bei Logistikkosten

Als der Ölpreis 2008 auf 150 Dollar pro Barrel stieg, wurden viele Offshore-Lieferanten auf dem US-Markt deutlich weniger wettbewerbsfähig. Bei Stahl beispielsweise stiegen die Preise in den USA um 20 Prozent, da die Kosten für den Schiffstransport aus China um fast 100 Dollar pro Tonne stiegen.

  • Vertriebskanäle

Indirekte Risiken können auch in Vertriebskanälen lauern. Typische Kaskadeneffekte können eine Unfähigkeit, Endkunden zu erreichen, veränderte Vertriebskosten oder sogar radikal neu definierte Geschäftsmodelle sein.

Der Konkurs und die Liquidation des großen US-Elektronikeinzelhändlers Circuit City im Jahr 2008 hatte beispielsweise kaskadierende Auswirkungen auf die gesamte Branche. Elektronikhersteller hatten unbezahlte Forderungen in Höhe von rund 600 Millionen Dollar, die plötzlich gefährdet waren. Darüber hinaus entstanden wichtige indirekte Risiken durch Preisdruck und Schnäppchenjäger-Verhalten, als Insolvenzverwalter rabattierte Waren mitten in der Weihnachtssaison verkauften.

  • Kundenreaktionen

Oft sind die komplexesten Folgeeffekte die Reaktionen der Kunden, da diese sehr vielfältig sein können und viele Faktoren im Spiel sind. Ein typischer Kaskadeneffekt ist eine Verschiebung des Kaufverhaltens, wie im Fall der Kanadier, die mit ihrer stärkeren Währung in den USA einkauften.

Ein weiterer Effekt ist die veränderte Nachfrage, wie die Auswirkung höherer Kraftstoffpreise auf den Automarkt: Mit steigenden Benzinpreisen gab es eine deutliche Verschiebung von großen SUVs zu Kompaktwagen, wobei Hybridfahrzeuge schnell zu ernsthaften Konkurrenten wurden.

Integration von Risikomanagement in kontinuierliche Prozessentwicklung

Risikokaskaden als Werkzeug für kontinuierliche Verbesserung

Die Analyse von Risikokaskaden kann besonders nützlich sein, um die vollständigen Auswirkungen eines großen Risikos auf die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens zu bewerten. Die Untersuchung, wie sich dieses Risiko durch die Wertschöpfungskette fortpflanzt, kann dem Management helfen, durchzudenken - wenn auch unvollkommen - was sich grundlegend ändern könnte, wenn sich ein Element im Geschäftsumfeld ändert.

Fallstudie 1: CO2 Regulierung in der Aluminiumindustrie

Ein aufschlussreiches Beispiel für tiefgreifende Risikoanalyse liefert die Aluminiumindustrie im Kontext neuer  CO2 Regulierungen:

  • Direkte Exposition: Aluminiumproduzenten sind direkt durch Kohlenstoffregulierungen betroffen, da die Elektrolyse zur Aluminiumgewinnung Kohlenstoff erzeugt.
  • Indirekte Exposition: Sie sind auch indirekt exponiert, da ihre Stromlieferanten ebenfalls Kohlenstoff erzeugen.

Eine einfache Risikoanalyse deutete darauf hin, dass ein Unternehmen bei neuen Kohlenstoffregulierungen "carbon short" sein würde, was zu sinkenden Gewinnen führen würde. Aber eine umfassendere Betrachtung, wie das Kohlenstoffrisiko durch die Wertschöpfungskette kaskadiert, zeigte, dass dieses Unternehmen tatsächlich "carbon long" sein würde: Mit steigenden Kohlenstoffpreisen profitiert das Unternehmen wirtschaftlich aufgrund seiner hohen Kohlenstoffeffizienz, seiner günstigen geografischen Lage und der potenziellen zusätzlichen Nachfrage nach Aluminium.

Fallbeispiel 2: Steuerkrise in den USA und globale Supply-Chain-Effekte

Die aktuelle Steuerkrise in den USA – ausgelöst durch politische Blockaden, Unsicherheiten bei der Haushaltsführung und drohende Steuererhöhungen – hat erhebliche Auswirkungen auf die internationalen Finanzmärkte und die globalisierten Lieferketten:

  • Börsenreaktionen: Die Unsicherheit über die künftige Steuerpolitik und mögliche Zahlungsausfälle der US-Regierung führen zu erhöhter Volatilität an den internationalen Börsen. Investoren ziehen Kapital ab, die Kurse schwanken stark, und das Vertrauen in den US-Dollar als Leitwährung wird erschüttert. Solche Schocks wirken sich unmittelbar auf die Bewertung von Unternehmen, die Refinanzierungskosten und die Investitionsbereitschaft aus.
  • Globale Supply Chains: Die Steuerkrise beeinflusst die Zahlungsfähigkeit und das Investitionsverhalten von US-Unternehmen, was sich kaskadierend auf internationale Lieferketten auswirkt. Lieferanten weltweit müssen mit verzögerten Zahlungen, Auftragsstornierungen oder geänderten Zahlungsbedingungen rechnen. Besonders betroffen sind Branchen mit hoher US-Exportquote oder starker Abhängigkeit von US-amerikanischen Vorprodukten. Die Unsicherheit führt zu Engpässen, Preissprüngen und erhöhten Logistikkosten – vergleichbar mit den Effekten früherer globaler Krisen, etwa der Ölpreisschocks oder der Bankenkrise 2008.

Beispielhafte Kaskadeneffekte

AuslöserDirekte Auswirkung (USA)Indirekte Effekte (weltweit)
Steuerkrise/Shutdown in den USABörsenturbulenzen, ZahlungsausfälleKapitalabzug aus Schwellenländern, Währungsschwankungen, Lieferengpässe
Vertrauensverlust in US-DollarSteigende RefinanzierungskostenHöhere Preise für importierte Rohstoffe, sinkende Margen
Investitionsstopp US-UnternehmenAuftragsrückgang für US-ZuliefererUmsatzrückgänge bei internationalen Partnern, Anpassung der Lieferketten

Implementierung in Deinem Unternehmen

Schritte zur Integration in Deine Prozessentwicklung

  1. Erweitere Deine Risikoperspektive: Identifiziere nicht nur direkte, sondern auch indirekte Risiken entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
  2. Etabliere kontinuierliche Risikobewertung: Mache die Risikoanalyse zu einem regelmäßigen Teil Deines Geschäftsprozesses, nicht zu einer einmaligen Übung.
  3. Verknüpfe Risiko mit Strategie: Nutze die Erkenntnisse aus der erweiterten Risikoanalyse, um Deine Unternehmensstrategie zu informieren und zu verbessern.
  4. Entwickle Szenarien: Modelliere verschiedene Szenarien, um die möglichen Kaskaden von Schlüsselrisiken zu verstehen.
  5. Fördere bereichsübergreifendes Denken: Brich Silos auf, um ein umfassenderes Verständnis von Risikokaskaden zu ermöglichen.

Fazit

Unbekannte und unvorhersehbare Risiken wird es immer geben, und selbst der beste Risikobewertungsansatz kann nicht alle identifizieren. Dennoch kann ein tieferer Einblick in die möglichen Verläufe ein umfassenderes Bild der Wettbewerbsdynamik einer Branche vermitteln und zur Gestaltung einer besseren Unternehmensstrategie beitragen.

Die Integration von Risikomanagement in die kontinuierliche Prozessentwicklung ermöglicht es Dir:

  • Bedrohungen frühzeitiger zu erkennen
  • Versteckte Chancen zu identifizieren
  • Robustere Geschäftsprozesse zu entwickeln
  • Deine strategische Position zu stärken

Für das Risikomanagement bedeutet das:

  • Risiken müssen IMMER entlang der gesamten Wertschöpfungskette betrachtet werden, inklusive der indirekten und schwer vorhersehbaren Effekte.
  • Die kontinuierliche Überwachung und Anpassung der Prozesse ist entscheidend, um schnell auf neue Risikolagen reagieren zu können.
  • Unternehmen mit resilienten, diversifizierten Lieferketten und flexiblen Prozessen sind besser gegen solche Schocks gewappnet.

Als Geschäftsführer ist es entscheidend, dass Du über den Tellerrand hinausschaust und Risiken nicht isoliert, sondern als Teil eines größeren, miteinander verbundenen Systems betrachtest. Nur so kannst Du Dein Unternehmen wirklich zukunftssicher machen.